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Chominciamento di gioia
Virtuose Tanzmusik zur Zeit von Boccaccios Decamerone
Als im Jahre 1348 die Pest ihren Einzug in Europa hielt, fanden in der Folge circa 25 Millio-
nen Menschen den Tod. Diese Zeit der Schrecken und Wirrnisse führte auch zum Tode
eines veralteten Weltbildes, das von theologischen Dogmen und kirchlicher Moral geprägt
war. Gleichzeitig keimten in den norditalienischen Städten der Frührenaissance neue
kulturelle Impulse: der Humanismus, demokratische Staatsformen und blühender Handel.
Die Schicht der Patrizier und Bürger erlangte durch die Tuchindustrie Reichtum und
Macht und wurde zum neuen Träger der Kultur. Sie finanzierte die Gründung von Uni-
versitäten, in denen Erkenntnisse auf kreative, empirische Weise erarbeitet wurden und
die sich mehr und mehr dem Einfluß der Kirche widersetzten. Nicht mehr Gott, sondern
der schöpferische Mensch stand im Mittelpunkt des Interesses und wurde philosophisch,
historisch und medizinisch erforscht; die Neuzeit wurde geboren.
In Giovanni Boccaccios Novellensammlung "Il Decamerone" (1353) wird die Geschichte
von zehn jungen florentinischen Edelfrauen und -männern erzählt, die sich für zehn
Tage vor den Schrecken der Pest auf einen Landsitz zurückziehen, um sich singend, tan-
zend und Geschichten erzählend an der Kunst zu erfreuen. Ihr Zusammenleben ist noch
geprägt vom hohen Ideal der mittelalterlichen Minne, doch bildet gleichzeitig die Darstel-
lung der triebhaften Liebe, gepaart mit geistreicher Geselligkeit eine neue welt-freudige
und praktische Moral heraus.
Vielfältig sind die Hinweise im Decamerone auf die Musikpraxis der Zeit.: "...die Königin
gebot, da alle Damen, ebenso gut die jungen Männer tanzen, und ein großer Teil von
ihnen auch sehr schön spielen und singen konnte, daß Instrumente gebracht würden;
dann nahm, auf ihr Gebot, Dioneus eine Laute und Fiammetta eine Fidel und fingen an
einen Tanz zu spielen. Hierauf trat die Königin mit den anderen Damen und auch den
beiden jungen Männern zu einem Ringeltanz an ... Als der Tanz geendet war, sangen sie
niedliche , fröhliche Lieder." (1. Tag, Einführung)
An anderer Stelle wird eine liebeskranke Dame mit Musik getröstet: "Minuzzo aber ward
zu damaliger Zeit für einen sehr feinen Sänger und Spieler gehalten ... nachdem er ihr
mit liebevollen Worten zugeredet hatte, stimmte er auf seiner Fidel eine Stampita auf
eine sehr süße Weise an, worauf er alsdann eine Canzone sang." (10. Tag, 7. Novelle)
Einerseits war die "Ars Musica" nicht mehr ein spekulatives Auslegen der Schriften in
klösterlichen Schreibstuben zum Beweis und zur Ehre Gottes, sondern eine von jedermann
im Alltag praktizierte Kunst. Andererseits - so wie Boccacccio Volkssprache und Volks-
erzählungen auf eine künstlerische Ebene gehoben hatte - lauschte man auf die Tänze
des Volkes, die dort als Gehörs- und Improvisationsmusik lebten, und brachte sie als
Vortragsmusik in eine künstlerische Form.
Eine der ersten Handschriften reiner Kunst- bzw. Tanzmusik stammt aus Norditalien
und wird unter der Sigelnummer 29987 in der British Library in London aufbewahrt.
Neben mehreren Madrigalen, deren Sprache und Notationsart die Niederschrift um das
Jahr 1390 datieren lassen, finden sich am Ende der Schrift 15 monophone Instrumental-
stücke. Sie weisen alle die damals übliche Form der Tanzmusik auf: mehrere in Anzahl
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und Form variierende "parti" (voneinander unabhängige Teile mit oftmals improvisato-
rischem Charakter) enden jeweils immer in demselben "aperto" (Halbschluß) bzw. nach
ihrer Wiederholung im "chiuso" (Ganzschluß). Auch die ausdrückliche Benennung der
Tanzart der ersten acht Stücke als "istanpitta", der folgenden vier als "saltarello" und
des 13. als "trotto" deuten auf Tanzschritte (stampfen, hüpfen, traben). Doch schon die
letzten beiden Stücke werfen bezüglich der Tanzbarkeit Fragen auf; "Lamento di Tristano"
und "La Manfredina" sind von ihrem Charakter her eher getragene Kompositionen, auf
die eine schnelle Variation, die sogenannte "rotta", folgt. Am deutlichsten als Tanzmusik
erkennbar sind der "trotto" und die "saltarelli", die in ihrer Struktur einfacher und ein-
gängiger sind als die "istanpitte". Letztere geben am meisten Rätsel auf; schon durch
ihre Länge heben sie sich von den anderen Kompositionen ab. Weitläufige improvisa-
torische Umspielungen der Melodielinien und oft auftretende Quint- und Quartsprünge
stehen ganz in der damaligen instrumentalen Musizierpraxis, die von der arabischen
Kultur geprägt war, und liegen gut in der Hand auf den Instrumenten der Zeit (Fidel,
Blockflöte, Harfe, Ud, Dudelsack..). Sie geben den "istanpitte" gelegentlich einen minima-
listischen Zug. Andererseits verlieren sich manchmal die "parti" in "melodischen Höhen-
flügen" mit an moderne Chromatik erinnernde Vorzeichenwechsel, mit sich verschieben-
den Rhythmen, und Tonumfängen über zwei Oktaven. Fast erscheint es, als wären die
"istanpitte" eine "experimentelle Musik" des 14. Jhdt., der Versuch, die Grenzen der neuen
instrumentalen Kunstmusik zu definieren. Erstmalig in der Musikgeschichte wurden
Titel vorangestellt, die fast programmatisch wirken.:
"Belicha" (Die Kriegerische), "Parlamento" (Gespräch), "Tre Fontane" (Drei Quellen),
"Ghaetta" (Die Fröhliche), "In Pro" (Bitte), "Principio di virtu´" (Prinzip der Tugend),
"Isabella" und "Chominciamento di gioia" (Anbeginn der Freude).
Waren diese Kompositionen ein unerhörter Griff in die Zukunft, ein Vorläufer der Maxime
"l´art pour l´art"? In dieser Einspielung liegen sämtliche instrumentalen Titel der Hand-
schrift 29987 vor. Wir haben uns bei der Interpretation am Stil der Zeit orientiert und
uns des entsprechenden Instrumentariums bedient, dabei aber auch die oben aufgewor-
fenen Fragen berücksichtigt. Der improvisatorische Charakter der Musik sowie der Ver-
such, die 15 Titel als eine Gesamtheit für heutige Hörgewohnheiten erlebbar zu machen,
haben uns erlaubt, Teile umzustellen oder zu kürzen. Die letzte Entscheidungsgrundlage
für die Interpretation hat aber immer die Freude an der Musik und der Kreativität gebil-
det. "Il Chominciamento di gioia".
"Zierliche Damen, ihr werdet, wie ich glaube, wohl einsehen, der Sterblichen Verstand
besteht nicht allein darin, die Vergangenheit fest im Gedanken zu haben und die Gegen-
wart gehörig zu kennen, sondern auch darin, durch das eine sowie durch das andere die
Zukunft vorhersehen zu können. Und dies ist bei ausgezeichneten Menschen immer für
einen Beweis der größten Weisheit angenommen worden." (10. Tag, 10. Novelle)
("Il Decamerone" zitiert nach der Übersetzung von Schaum, Leipzig 1906)
Riccardo Delfino
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