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NR. 72
ROTE ARMEE
FRAKTION
DEUTSCHLAND UND DER TERRORISMUS
AR
Die Jahre der APO / Linksradikaler Untergrund / Vorbilder: Tupamaros, ETA, Rote Brigaden / Der Deutsche
Herbst 1977 / Die unbekannten Opfer / Rechter Terror auf dem Oktoberfest / Das Rätsel der dritten Generation
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ISBN 978-3-652-
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»Wir sagen, der Typ in der Uniform
ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so
haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen.
Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu
reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen
Leuten zu reden, und natürlich kann
geschossen werden.«
Ulrike Meinhof
2 GEO EPOCHE Rote Armee Fraktion
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser
A
uch wenn man sich noch so bemüht, es irgendwie
zu verstehen oder zumindest nachzuvollziehen,
man bleibt doch fassungslos: Was in aller Welt
treibt mehrere Dutzend westdeutsche Bürgerkin-
gen, in denen man sich immer besser kennengelernt hat, sich
der, Intellektuelle die meisten, dazu, als Mitglieder der „Roten immer näher gekommen ist, in den Hinterkopf zu schießen?
Armee Fraktion“ oder anderer Terrorgruppen ihrem Staat
Und was hat Wilfried Böse von der RAF-Konkurrenz „Revo-
den Krieg zu erklären und dann zunehmend rücksichtslos die
lutionäre Zellen“ bei einer Flugzeugentführung dazu gebracht,
Vertreter dieses „Systems“ zu bekämpfen, zu verletzen, ihren israelische von nichtisraelischen Passagieren zu trennen – als
Tod in Kauf zu nehmen – oder gar kaltblütig zu exekutieren?
stünde er wie einst die SS an der Rampe von Auschwitz?
Wie kann es angehen, dass sich eine anfangs als empfind-
Diese Aufzählung ließe sich noch mit etlichen weiteren
sam beschriebene Frau wie Ulrike Meinhof, die sich als Jour- deutschen Terroristen fortführen.
nalistin dafür einsetzt, Heimzöglinge human zu behandeln und
Wie konnten sie sich nur so verrennen? Junge Menschen,
Kinder gewaltlos zu erziehen, über die Jahre in einen solchen die doch gerade anders sein wollten als ihre Väter, denen sie
revolutionären Furor steigert, dass sie Polizisten als „Schweine“ vorwarfen, beim Massenmord an den Juden mitgemacht oder
diffamiert und solche Sätze formuliert wie den links abgedruck- zumindest nichts dagegen getan zu haben. Die sich als Pazifis-
ten? Dass sie ihre durch und durch wohlsituierte Existenz auf- ten fühlten und die handgreifliche Autorität der Eltern ablehn-
gibt, alle Brücken hinter sich niederreißt und sogar den Kontakt ten, weil Gewalt immer nur noch mehr Gewalt produziere.
zu ihren kleinen Töchtern abbricht?
Eine Antwort ist, dass bei einer kleinen Minderheit der
Wie kann es sein, dass ein Mann wie Christian Klar – der aus der studentischen Protestbewegung der 1960er Jahre her-
seinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung damit begründet, vorgegangenen radikalen Linken die Fokussierung auf die
er habe eine „zutiefst lebensbejahende Haltung“, die ihn dazu Kriegsverbrechen der USA in Vietnam sowie auf die als repres-
bringe, „das menschliche Leben zu verehren, zu lieben und zu siv, wenn nicht gar protofaschistisch empfundenen Verhält -
verabsolutieren“ – sich so radikalisiert, dass er schließlich nicht nisse in Westdeutschland zu einem Tunnelblick führte, der
nur bei einem missglückten Entführungsversuch auf den Bank- irgendwann alles ausblendete, was nicht in dieses Weltbild
manager Jürgen Ponto feuert, eine Symbolfigur des verhassten passte, und zu einem innerlichen Absterben aller normalen,
„Systems“, sondern später auf der Flucht vor der Polizei einer zwischenmenschlichen Empathie führte.
völlig Unbeteiligten in die Brust schießt, nur, um so leichter
Zum anderen darf man aber auch nicht verschweigen, dass
ihr Auto stehlen zu können?
die Vertreter der Studentenbewegung schon von Beginn an ein
Und was muss geschehen sein im Leben von Birgit
durchaus ambivalentes Verhältnis zur Gewalt hatten. Bereits
Hoge feld, dass sie sich eines Abends in einer Diskothek an
in den Zeiten der „Außerparlamentarischen Opposition“ be-
einen US-Soldaten heranmacht, mit ihm flirtet, ihn mit der
geisterten sich Studenten für die Lehren Mao Zedongs – und
Aussicht auf mehr in einen Wald lockt, wo er dann (wohl von störten sich nicht daran, dass der vermeintliche Freiheits-
Kom plizen) per Kopfschuss ermordet wird – nur weil man für kämpfer ein zynischer Diktator war, der Millionen Menschen
einen geplanten Anschlag auf der US Air Base den Ausweis
opferte. Sie priesen den Widerstand des Vietcong gegen die
des GIs braucht?
Amerikaner, ignorierten aber dessen Massaker an der Zivilbe-
Woher diese sprachlos machende Gewissenlosigkeit? Diesevölkerung. Und Theoretiker des Widerstands wie der Studen-
Eiseskälte gegenüber den vermeintlichen Todfeinden? Wie
tenführer Rudi Dutschke distanzierten sich nicht eindeutig
haben es die Mörder des 1977 entführten Arbeitgeberpräsiden- von der Gewalt auch gegen Menschen.
ten Hanns Martin Schleyer geschafft, ihrem Opfer nach 43 Ta-
Natürlich sind die Rebellen von 1968 in ihrer überwälti-
genden Mehrheit keine Terroristen geworden. Dennoch gibt
es eine politische, ideologische – und ja: psychologische – Ver-
bindung zwischen den Aktionen der APO (und deren oft
hochberechtigter Kritik an den Verhältnissen in der Bundes-
republik) und dem Abdriften einer kleinen Gruppe von Sek-
tierern in einen mörderischen Aktionismus.
Wir rekonstruieren in diesem Heft die Geschichte der
RAF und des deutschen Terrorismus. Doch auch nach monate-
langer Arbeit an dem Thema bleibt die Frage: Was haben sie
sich nur dabei gedacht?
Gesa Gottschalk (2. v. l.) hat das Konzept zu diesem Heft
erarbeitet und die Produktion koordiniert. Unterstützt wurde
sie von dem Verifikationsteam um Andreas Sedlmair,
Olaf Mischer und Lenka Brandt (v. l.)
Herzlich Ihr
GEO EPOCHE Rote Armee Fraktion 3
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ANFÄNGE Gelangweilt von den Debatten
der APO, fordern Gudrun Ensslin und
Andreas Baader Aktionen statt Geschwätz.
Die RAF-Gründer meinen damit: Gewalt.
6
APO Am 2. Juni 1967 stirbt der Demonstrant Benno Ohnesorg – erschossen von einem
Polizisten. Sein Tod ist der Auslöser einer Radikalisierung jener linken „Außerparlamentari-
schen Opposition“, die gegen Vietnamkrieg und bundesrepublikanischen Muff protestiert.
Und aus der nun schon bald zu allem entschlossene Terrorgruppen erwachsen werden.
70
KAMPF IM KNAST Als sich der RAF-
Terrorist Holger Meins im Gefängnis zu
Tode hungert, ehren ihn Sympathisanten
auf seiner Beerdigung als Märtyrer.
88 100 138
ATTENTAT Der Mord an General-
bundesanwalt Siegfried Buback durch
Terroristen am 7. April 1977 ist der
Auftakt einer brutalen Anschlagserie.
ENTFÜHRUNG Nur ein Ziel hat die RAF
im Herbst 1977: ihre inhaftierten Anführer
freizupressen. Sie verschleppt den Arbeit-
geberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.
RECHTER TERROR Während Öffent-
lichkeit und Behörden vor allem auf die
Gefahr von links achten, trainieren Neo-
nazis für den Krieg gegen den Staat.
4 GEO EPOCHE Rote Armee Fraktion
INHALT # 72
APO 1966–1968 FRÜCHTE DES ZORNS
Kein Ereignis radikalisiert die Außerparlamentarische Opposition
so sehr wie die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg 6
URUGUAY 1970 KONZEPT STADTGUERILLA
Als die sozialen Spannungen in dem südamerikanischen Land
immer größer werden, nehmen Rebellen den Kampf auf 42
ANFÄNGE 1968–1972 DER WEG IN DEN UNTERGRUND
Zwei Brandanschläge auf Frankfurter Kaufhäuser sind die ersten
Gewalttaten jener Gruppe, die sich bald „RAF“ nennen wird 44
JAPAN 1971 VEREINIGTE ROTE ARMEE
Mit grausamen Selbstreinigungs-Ritualen bereitet sich eine
radikale japanische Politsekte auf die Weltrevolution vor 60
DIE ERBEN DER APO ARBEIT AN UTOPIA
Ab 1968 zersplittert die linke Studentenbewegung nach und nach
in zahllose Gruppierungen, darunter maoistische Kaderparteien 62
HUNGERSTREIKS 1973–1977 FREIHEIT ODER TOD
Im Kampf um bessere Haftbedingungen machen die
RAF-Gefangenen ihre Körper zu Waffen 70
SPANIEN 1975 MORD IM BASKENLAND
Zunächst richtet sich die Gewalt der ETA gegen den Diktator
Franco. Doch nach dessen Tod töten die Basken weiter 86
ATTENTATE 1977 DIE NÄCHSTE GENERATION
Mit den Morden an Siegfried Buback und Jürgen Ponto beginnt
die „Offensive 77“ der RAF 88
DEUTSCHER HERBST 1977 HÖHEPUNKT DES TERRORS
Um die RAF-Gründer aus dem Gefängnis zu befreien,
entführen ihre Gefolgsleute einen mächtigen Lobbyisten 100
Ein Verzeichnis mit den Themen aller
GEOEPOCHE-Ausgaben sowie einen Briefkasten
für Leserzuschriften finden Sie unter www.geo-epoche.de
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SCHICKSALE 1970–1993 DIE VERGESSENEN OPFER
Der Terror der RAF trifft nicht nur Prominente. Doch kaum
jemand interessiert sich für die unbekannten Leidtragenden 126
ITALIEN 1978 ROTE BRIGADEN
Die Entführung des früheren Premierministers Aldo Moro soll
eine Revolution auslösen – und stärkt doch nur den Staat 134
RECHTSTERROR 1980 DAS OKTOBERFEST-ATTENTAT
Der blutigste Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik ist das
Werk eines Neonazis. Doch hatte der Täter Hintermänner? 138
DAS ENDE DER RAF DIE RÄTSELHAFTE NACHHUT
Wer gehörte zur „dritten Generation“ der RAF? Interview
mit dem Terror-Experten Dr. Wolfgang Kraushaar 150
ZEITLEISTE DATEN UND FAKTEN 154
Die Welt von GEO 160
Impressum/Bildquellen 163
VORSCHAU
GEOEPOCHE ISLAM 164
GEOEPOCHE EDITION DÜRER UND SEINE ZEIT 165
Die RAF-Mitglieder haben in ihren Positionspapieren, Briefen und Erklärungen in der Regel Substantive und Namen klein geschrieben.
GEOEPOCHE hat Zitate aus solchen Quellen unverändert übernommen, sofern sie der Redaktion im Faksimile vorlagen oder in der Fachliteratur
so überliefert sind. Alle anderen Zitate sind in die neue Rechtschreibung übertragen worden. Kürzungen sind nicht kenntlich gemacht.
Titelbild: Der von RAF-Terroristen entführte Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, 6. Oktober 1977. Alle Fakten und Daten in dieser Ausgabe
sind vom GEOEPOCHE-Verifikations team auf ihre Richtigkeit überprüft worden. Redaktionsschluss: 26. März 2015
GEO EPOCHE Rote Armee Fraktion 5
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