ZEIT Wissen 2015 03.pdf

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ZEIT WISSEN
DAS EINFACHE LEBEN
5,90 EURO 
Österreich, Benelux, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich 6,40 € — Schweiz 10,90 sfr
NR. 03
April
Mai 2015
NERV mich nicht!
Neue Tipps aus der
Nervensägen-Forschung
Das andere Weltall
Sind Einstein-Gegner
wirklich nur Spinner?
Religion ohne Opfer
Gandhis Anklage,
jetzt aktueller denn je
Beziehungskrise
AUTOFAHRER
RADFAHRER
Endlich in der
Paartherapie
Das einfache
LEBEN
Macht uns diese Sehnsucht
zu
Helden
oder
Clowns?
4 196700 205909
03
EDITORIAL
AXT SPALTET SEHNSUCHT
Die Familie war jung, hatte kein Geld und zog in ein renovie-
rungsbedürftiges Haus aufs Land. Viel Platz war dort für alle,
sogar für einen Hund, sonst war dort nicht viel, nicht mal eine
Heizung. Aber hey: Wir leben jetzt auf dem Land, wir ziehen
Wollpullover an und heizen mit Holz, sagte der Vater, ich. Kaufte
alte Eisenöfen, rammte sie in die noch älteren Kamine und ging
mit Kindern und Leiterwagen zum Holzsammeln. Das einfache Leben, herrlich. Es war
Sommer. Im Herbst hatten wir einen stattlichen Haufen Stöcke vorm Haus gestapelt.
»Was ist das?«, fragte ein Bauer. »Unser Brennholz«, antwortete ich. »Das reicht für eine
Woche, höchstens«, sagte der Bauer. Es wurde ein sehr kalter Winter, in dem wir die
Kinder fast die ganze Zeit bei den Großeltern unterbrachten (Zentralheizung). Und der
Vater begreifen musste, dass ein kariertes Hemd noch keinen Lumberjack aus ihm macht.
Die folgenden Winter: Baumstämme zersägen, mit der Axt spalten – zwölf Tonnen jedes
Jahr. Das einfache Leben ist vor allem mühsam. Es braucht Kenntnisse, die das Smart-
phone nicht so hopplahopp liefert – und Respekt.
Aber wir sehnen uns zunehmend danach. Das ist ein gutes Zeichen, vielleicht ist es sogar
heldenhaft: Die Seele sucht Ausgänge aus der komplizierten Welt. Wir müssen nur
aufpassen, dass wir dabei nicht zu Witzfiguren werden, die mit einem schicken Hacke-
beilchen im gewachsten Lederetui im Wald herumstehen. Und dann im Geländewagen
beim Gartencenter zwei Päckchen Kaminholz holen.
Andreas Lebert,
Chefredakteur
Foto
Vera Tammen; Werner Amann; Serge Bloch
AUS DER REDAKTION
Christina von Braun,
Buchautorin, Filmemacherin und
Kulturwissenschaftlerin, hat viele Jahre über die Rolle
der Religion in der Gesellschaft geforscht. In ihrem
Essay über Gandhis moderne Sünde »Religion ohne
Opfer« analysiert sie das bizarre Opferverständnis
der Terrororganisation »Islamischer Staat« (Seite 84).
Serge Bloch
ist berühmt für seine humorvollen Strich-
zeichnungs-Collagen, mit denen er Bücher und
internationale Zeitschriften illustriert. In Frankreich
kennen Kinder seine Comicfigur Samsam. Für unsere
Titelgeschichte hat er die Abenteuerromantik
des modernen Menschen in Szene gesetzt (Seite 52).
Titelfoto
Serge Bloch
INHALT
FORSCHUNG &
TECHNIK
UMWELT &
GESELLSCHAFT
GESUNDHEIT &
PSYCHOLOGIE
Autos
Der Evolution unterworfen?  S. 60
Kinder
Bilder einer Einstellung  S. 68
Nervensägen
Immer die anderen?  S. 20
6
Am Anfang drei Fragen
66
Arbeitsunterlage
20
Wann nerve ich?
Gibt es ein Gedächtnis der Gefühle?
Welche Charaktere braucht ein
gutes Team? Warum leben Frauen
länger als Männer?
38
Meinstein
Diesmal: Verhandeln Männer über
ihr Gehalt wirklich besser als Frauen?
68
Im Land der Kinder
Neues aus der Nervensägen-
Forschung. Und ein paar Tipps
für Gelassenheit im Alltag
30
DAS ZEIT WISSEN-GESPRÄCH
Hier parkt man nicht! –
Halt die Klappe!!
Albert Einstein stürzte vor 100 Jahren
unser Weltbild – und brachte eine
neue Spezies hervor: Einstein-Gegner
48
Expedition Emmentaler
Kinder haben ein Recht auf ihren
eigenen Tod, schrieb der Pädagoge
Janusz Korczak. Da ist was dran
80
ZEIT WISSEN-SERIE, Teil 2
Mahatma Gandhi: Sieben Sünden
der modernen Gesellschaft
Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer
analysiert die Beziehungskrise
zwischen Auto- und Radfahrern
44
On_Off
Die Massenproduktion macht Käse
fad. Mit Hightech wollen Forscher
ihm den Geschmack wiedergeben
60
Schau mir in die Augen, Darwin!
90
Geschäft ohne Moral, Religion ohne
Opfer, Genuss ohne Gewissen: Was
bedeuten Gandhis Thesen heute?
Brauchen Lebensmittel einen Preis?
Das Internet ist immer
und sofort. Verlernen wir
dadurch das Warten?
46
Das Experiment
VW Käfer sterben aus, Geländewagen
vermehren sich wie Karnickel. Kann
die Evolutionsbiologie das erklären?
78
Das gute Bild
95
Nein, sagten ein paar norddeutsche
Bauern – und stellten das Prinzip des
Bauernhofs auf den Kopf
ZEIT WISSEN-Nachhaltigkeitspreis
Diesmal: Hitlers Pullover
104 Optimist – Pessimist
Neues aus der Welt der Fotografie
Die Sieger und ihre Ideen
Wie würde der Kontakt zu Außer-
irdischen die Menschheit verändern?
Fotos
Sayy Montana; Loretta Lux »Girl with crossed arms«, 2001 ©VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Haw-lin Services
RUBRIKEN
3
12
16
18
36
96
100
101
103
106
Editorial
Magazin
U-Acht
Ü-Achtzig
Geordnete Verhältnisse
Bücher
Gadgets
Apps
Rätsel/Impressum
Die Welt aus der Sicht …
UNSERE
RECHERCHE-
QUELLEN
Studien, Bücher, Artikel,
Dokumente – die Quellen,
die wir für unsere
Recherchen genutzt haben,
finden Sie online unter
www.zeit-wissen.de/0315quellen
zu diesen Texten:
Am Anfang drei Fragen
Meinstein – Allgemeine
Relativitätstheorie
Brauchen Lebensmittel
einen Preis?
Wann nerve ich?
Titel: Die Sehnsucht nach
dem einfachen Leben
Optimist – Pessimist
TITEL
Die Sehnsucht nach
dem einfachen Leben
52
Macht sie uns glücklich oder lächerlich?
Wer sein Leben entrümpeln oder im Einklang mit der
Natur leben will, rüstet gerne erst mal auf: mit Funk-
tionsunterwäsche, Hardshell-Jacke, Designer-Saftpresse,
Biwak-Zelt – und den passenden Apps. ZEIT Wissen-
Autorin Susanne Schäfer hat sich diese Angelegenheit
genauer angesehen. Wir vermuten: Auch Sie werden sich
in ihrem Text wiederfinden
Illustration
Serge Bloch
AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Gibt es ein Gedächtnis
der Gefühle?
Freude, Angst oder Scham: Die Emotionen von
einst können unser Verhalten ein Leben lang prägen.
Über die große Macht kleiner Augenblicke
Text
Ulrike Meyer-Timpe
Foto
Gregor Collienne
D
ie Angst vor der Sportstunde, der erste
Kuss, ein schlimmer Streit: Es gibt
Momente, die man nie vergisst. Wenn
unsere Welt in Aufruhr gerät, brennen
sich Erlebnisse ins Gedächtnis ein, das
ist bekannt. Die Macht der Emotio-
nen und Gefühle reicht aber noch viel weiter. Sie hält
auch Erfahrungen fest, an die wir uns später gar nicht
mehr bewusst erinnern können: sich aus eigener Kraft
erheben, erstmals auf den eigenen Beinen stehen, ganz
allein die ersten Schritte tun. Welch neu gewonnene
Freiheit. Und was für ein Schreck, als die Beine dann
doch versagten. Frustrierend, empörend. Wie zwiespäl-
tig die Gefühle, als wir zum ersten Mal schwimmen
sollten. Wie traurig, als der Schneemann schmolz. An
viele Momente aus unseren ersten Lebensjahren erin-
nern wir uns nicht bewusst, doch die Gefühle von da-
mals haben noch immer Macht über uns.
Wir besitzen nicht nur ein Gedächtnis für Fakten
und Fertigkeiten. Auch unsere Emotionen werden im
Gehirn verankert. Von dort aus nehmen sie Einfluss auf
unser Leben, entziehen sich aber oft der Kontrolle. Das
gilt für Prägungen aus frühester Kindheit, aber auch für
spätere Erfahrungen. Lange Zeit wollten die Menschen
das nicht wahrhaben, seit Aristoteles beschworen Gene-
rationen von Philosophen die reine Vernunft, die unse-
re Existenz bestimmen solle. Tatsächlich fällen wir viele
Entscheidungen aber nicht rational, sondern aus dem
Bauch heraus – auf der Basis abgespeicherter Emotionen.
Und das aus gutem Grund. Das emotionale Gedächtnis
erfüllt evolutionsgeschichtlich einen wichtigen Zweck:
In gefährlichen Situationen würde es oft zu lange dauern,
mit dem Verstand das Für und Wider abzuwägen.
Seit es die bildgebenden Verfahren gibt, versuchen
Neurowissenschaftler, die Gefühle im Gehirn genau zu
lokalisieren. Das ist erst ansatzweise gelungen, doch klar
ist bereits: Es gibt kein einheitliches Zentrum der Emo-
tionen. Wenn der Mensch beispielsweise Ekel empfin-
det, ist die Insula aktiv, ein abgesenkter Teil der Groß-
hirnrinde im Bereich der Schläfen. Das hat der
Neurologe Henrik Walter von der Charité festgestellt.
Andere Gefühle aktivieren jedoch andere Hirnregionen.
Zwar sind die Emotionen selbst ein archaisches
Erbe und somit universell; auch Tiere können Angst
oder Enttäuschung, Zuneigung oder Neugierde fühlen.
Doch wann sie auftreten und wie sich die Gefühle äu-
ßern, ist individuell unterschiedlich. Sie brauchen einen
Auslöser, der auf unserem ganz persönlichen Schatz an
emotionalen Erinnerungen basiert. Sie sind verknüpft
mit Ereignissen und Erfahrungen. Das lässt uns auf be-
stimmte Situationen emotional reagieren, ohne dass uns
der Grund dafür bewusst ist. Schon Freud beschrieb die
Macht des Unbewussten. Und Neurowissenschaftler
bestätigen diese heute in gewisser Hinsicht. Sie unter-
scheiden zwischen dem deklarativen und dem nicht
deklarativen, impliziten Gedächtnis. Ersteres macht es
möglich, sich Fakten oder Ereignisse explizit wieder ins
Bewusstsein zu rufen. Letzteres speichert Erfahrungen
ab, die uns gar nicht mehr präsent sind – und drückt
sich vor allem in unserem Verhalten aus. Es flutet uns
mit Gefühlen. Auslöser sind oft Sinneseindrücke: Eine
Melodie stimmt uns melancholisch, der Geruch von
Chlor macht uns euphorisch oder nervös.
Das implizite Gedächtnis wird von der Amygdala
gesteuert. Es ist eng verbunden mit dem Körper. So
lösen Emotionen oft physische Reaktionen aus – vom
erhöhten Puls bis zum Angstschweiß. Jeder kennt das
Herzklopfen in aufwühlenden Situationen. Es hat einst
dazu geführt, dass die Menschen im Herzen den Sitz der
Gefühle vermuteten.
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